Im Unterschied zu Deutschland lehnt sich unsere Umgangssprache nicht an die Schriftsprache, das Standarddeutsche an. Unsere Dialekte stammen vielmehr direkt vom Mittelhochdeutschen ab und sie haben dessen Lautung weitgehend beibehalten. Dialekt herrscht durchweg im täglichen Leben, bei Hoch und Niedrig, auch an Direktorensitzungen, selbst in panhelvetischen Zusammenkünften, sofern es alle verstehen.
Was man in der Schweiz schreibt und liest, ist eine Spielart des Standarddeutschen. Dieses eigenwertige «Schweizerhochdeutsch» hat aus der Zeit der oberdeutschen Schriftsprache einige Abweichungen in Wortschatz und Syntax bewahrt und hört sich anders an als Hannoveranisch, Berlinerisch oder Wienerisch.
Wer in der Schweiz dazugehören will, kommt nicht um die Dialekte herum. Mindestens passives Verstehen ist unumgänglich. Dialekte sind nicht verluderte Schriftsprache, gesprochen von ungebildeten Unterschichtlern, sondern – gerade in der Schweiz – eigenständige Sprachen mit ausgebautem Wortschatz.
Das Rezept liefert Frankreich. 1790 verstanden und sprachen von den 28 Millionen Franzosen zwölf Millionen kein Schriftfranzösisch, nur ungefähr drei Millionen beherrschten es. Mit dem Schlagwort «ein Volk, ein Land, eine Sprache» sollte der Gebrauch des Französischen durchgesetzt werden. Der Marquis de Condorcet regte 1793 in der Nationalversammlung ein Dekret an, nach dem die Kinder in ganz Frankreich sollten Französisch sprechen, lesen und schreiben lernen – in dieser Reihenfolge.
Doch erst im 19. Jahrhundert breitete sich das Schriftfranzösisch immer rascher aus über die Schule, den Militärdienst, die neuen und schnellen Verbindungswege, die Presse – und dank dem Druck der Behörden. Bis zum Ersten Weltkrieg verstanden und sprachen alle Franzosen Französisch, gebrauchten aber weithin noch die Dialekte. Von Schule und Verwaltung wurden die Dialekte verfolgt, ihr Anwendungsbereich verengte sich erst, unter dem Einfluss der Schriftsprache verfielen sie und lösten sich auf. Heute sind sie endgültig am Untergehen unter dem Druck von Presse, Radio, Fernsehen, während sie gleichzeitig ihre wirtschaftliche und kulturelle Grundlage verlieren.
In der Deutschschweiz musste man Standarddeutsch (Schriftdeutsch) bisher in der Schule lernen. Genau das ist unsere Stärke: Aus den Unterschieden der beiden Sprachen lernen wir sie besser kennen. Unterschiede bei den Verbformen, Unterschiede bei den Substantivpluralen, Unterschiede in der Wortstellung, Unterschiede bei Wörtern, schöne Helvetismen und bei uns ungebräuchliche Teutonismen.
Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich kennt natürlich den Vorteil, in mehreren Sprachen zu Hause zu sein. Darum empfiehlt sie zugezogenen kleinen Kurden, Türken, Spaniern, Portugiesen den Besuch des von ihr angebotenen Unterrichts in «Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK)». Sie begründet das damit, dass, wer seine Muttersprache gut beherrsche, leichter Deutsch lerne. Für Schweizerlein gilt das nicht. Da versaut der Dialektgebrauch angeblich das Lernen des Hochdeutschen.
Bereits seit einiger Zeit hört man an Radio und Fernsehen ennetrheinisches Deutsch. Manche Unternehmen haben schnellzüngige Firmensprecher aus der Bundesrepublik angestellt. Neuerdings beschert uns der Zürcher Verkehrsverbund in Tram, Bus und Bahn berlindeutsche Ansagen. Offenbar hat er keine Sprecherin des Schweizerhochdeutschen gefunden. Da fühlt man sich fremd im eigenen Land.
Wir können zwar über jede Schulhausrenovation abstimmen. Was in den Schulhäusern gelehrt wird, dazu haben wir nichts zu sagen. Wenn Kulturgut, und dazu gehören unsere Dialekte, willentlich und absichtlich zerstört wird, dann wird nicht abgestimmt, sondern verfügt. Wir kritisieren die Türkei, weil in deren staatlichen Schulen Unterricht auf Kurdisch verboten ist. Unsere Bildungsdirektorin verbietet den Gebrauch des Dialekts sogar im Turnen, im Zeichnen, auf dem Pausenplatz. Im Kindergarten soll in mindestens der Hälfte der Zeit Schriftdeutsch gesprochen werden. Privat dürfen wir schon noch Zürichdeutsch sprechen wie die Kurden.